Wie aus dem rauchenden Pott das Land der Zeit wurde
Einst Agrarwelt, dann Industriemoloch, heute dicht besiedelter Landschaftspark - kaum eine Region Europas hat sich in den letzten 150 Jahren so radikal verändert wie das Ruhrgebiet. Die notorische Frage, was seine Identität ausmacht, muss unter diesen Umständen ins Leere laufen. Außer man stellt sie selbst radikal. Per Leo versucht es und findet überraschende Antworten. Liegt der Schlüssel zum Ruhrgebiet womöglich in seinem Reichtum an Zeitbezügen, im endlosen Spiel zwischen dem, was nicht mehr, und dem, was noch nicht ist?
Dieses Buch widmet sich dem Phänomen Ruhrgebiet in zwei Anläufen. Ausgehend vom Schlüsseljahr 1958, dem Beginn der Kohlekrise, befasst sich der Schriftsteller Per Leo zunächst mit Ruhrgebietstexten von Heinrich Böll, Joseph Roth, Erik Reger, Paul Berglar-Schröer, Wolfram Eilenberger u. a. Aus der Vogelperspektive, so zeigt sich, schwankte die Region immer schon zwischen unvollendetem Projekt und nostalgischer Sehnsucht. Doch aus der Innensicht ergibt sich ein differenzierteres Bild. Als Historiker nimmt Leo nämlich noch ein anderes
Schlüsseljahr unter die Lupe - und rekonstruiert dabei die Geschichte eines Aufbruchs. Als 1978 die Montanindustrie im Sterben lag, brachte ein historisch interessiertes Netzwerk in Essen die Zeiten zum Tanzen. Das Beispiel zeigt auch, wo die Zukunft des Ruhrgebiets liegt: nicht in den visionären Entwürfen einer »Modellregion«, sondern im lokalen Gelingen. Das Echo von Essen ist heute im ganzen Ruhr-Emscher-Park zu hören. Und besonders deutlich in Gelsenkirchen!
»Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, pointiert, auch polemisch. [?] Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist.«
Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. November 2023